Dessa – “Chime”: Progressives Rap-Album voller Schönheit und Melancholie

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Rapperinnen, die ihren männlichen Kollegen in nichts nachstehen, gab es schon immer. Schon immer war aber auch ihre wahrnehmbare Anzahl sehr begrenzt. Wenn eine Rapperin dann auch noch herausragend singt und mit progressiver Produktion Hip-Hop-Hörkonventionen auf den Kopf stellt, wird man erst recht aufmerksam.

Dessa begann ihre Musikkarriere als Teil des Hip Hop Kollektivs Doomtree aus ihrer Heimatstadt Minneapolis. Mit „Chime“ veröffentlicht sie nun bereits ihr drittes Soloalbum (VÖ 23.02., Doomtree Records). Am 11. April wird sie mit den neuen Songs im Musik&Frieden auf der Bühne stehen.

Albumcover Dessa "Chime" (official press)The only way is forward

Was mir an „Chime“ sofort gefällt, ist, dass es wie nichts klingt, das ich kenne. Man stellt mitnichten nach Kurzem gelangweilt fest, welchem Rap-Idol hier nachgeeifert wird. Dessa hat glücklicherweise mehr als eine Leidenschaft. Sie studierte Philosophie und arbeitete dann im Gesundheitswesen. Sie trat als Spoken-Word-Artist auf, veröffentlichte mehrere Gedichtbände und platzierte wissenschaftliche Essays u.a. in der renommierten New York Times. Bei Doomtree war sie überdies direkt in die Labelarbeit involviert.

Aus einem so vielschichtigen Charakter entspringt dann auch ein Album, das neben den zwei Grundzutaten Beats und Raps noch weit mehr zu bieten hat. Der moderne Klang mischt Percussions und Gitarren, Geigen und Elektronik. Standard-Songstrukturen (Refrain + Chorus x drei) findet man nur selten. Die Produktion hat in einem Punkt gar etwas Beatle-eskes: die Songs auf dem nur 36 Minuten langen Album überschreiten nur selten die 3einhalb-Minuten-Grenze, doch diese kurzen Zeiträume werden liebevoll ausgeschmückt, aus kurzen Nummern wird Unwahrscheinliches herausgeholt.

Große Theorien und bewegende Geschichten

Auch textlich ist „Chime“ überraschend vielseitig und tiefgründig. Das Eröffnungsstück „Ride“ besteht aus drei eindringlichen Skizzen von Momenten, in denen sich einem scheinbar etwas offenbahrt, die man aber nicht vertiefen kann, weil man wieder weiter zum nächsten Termin muss (genial die aktuell-gesellschaftliche Beobachtung: „gender’s over, race came back“).

Auf „Fire Drills“ greift Dessa das weitverbreitete Frauenbild auf und an, welches diktiert, dass Frauen zarte, schutzlose Wesen sind, die immer und überall auf sich aufpassen müssen. Solche Themensongs sind bei ihr aber nie vertonte Essays, die die Dinge einfach nur benennen, sondern lyrisch-assoziative Kunststückchen, die das Sujet von verschiedenen Seiten beleuchten.

Neben der Videosingle „Good Grief“, die davon handelt, alten Schmerz hinter sich zu lassen, berührt vor allem das kontemplative „Say when“. „Beide Hände in Boxhandschuhen“ betreibt die Protagonistin Schattenboxen, weil sie all ihre Gegner geschlagen hat. An Siegen kann sie sich nicht mehr freuen. Eine gute Metapher auf die einsam machende Ellenbogengesellschaft.

Trap-freie Zone

Wie Dessa auf ihrem neuen Album von ernsten bis philosophischen Dingen spricht und dabei doch in einem (theoretisch) radiotauglichen Format bleibt; wie sie von Rap zu Gesang wechselt, ohne dass es auch nur ein bisschen aufgesetzt oder effekthaschend klingt, das ist eine wahre Freude. Verkopft und doch zugänglich, herausfordernd und dann wieder entgegenkommend. Dessa präsentiert hier eine Weiterentwicklung und Neuinterpretation des 90er Jahre Hip Hops, mit dem sie groß wurde. Diese persönliche Schatztruhe sei jedem empfohlen, der gern Geschichten hört und vom allumgreifenden Trap-Sound mal eine Pause braucht.

Review: Bastian Geiken
Fotos: Official press (Bill Phelps)

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