Mélanie Pain – “Parachute”: Die Geisteraustreibung

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In der ständig wechselnden weiblichen Gesangsbesetzung des Bossa-Nova-Projekts Nouvelle Vague ist Mélanie Pain die einzige Konstante: bereits seit 2004 leiht sie Neuinterpretationen bekannter und weniger bekannter (Post-)Punk- und New-Wave-Lieder ihre Stimme.
Aus dem erfolgreichen Projekt heraus begann sie ihre Solo-Karriere und legt nun mit „Parachute“ (V.Ö. 20.10.2016, Kwaidan Records) ihr drittes Album vor, mit dem sie sich künstlerisch beachtlich weiterentwickelt hat. Drei Stunden vor ihrem Berlin-Auftritt mit Nouvelle Vague am 23.11. nahm sie sich die Zeit, im Backstage des Postbahnhofs mit mir über ihre Solokarriere, Ängste und Politik zu reden.

Ich will nicht das nachmachen, was andere sowieso schon besser gemacht haben.“

indieberlin: Mélanie, bei Nouvelle Vague interpretierst du größtenteils Lieder aus den 80ern in einem Folk- / Bossa-Nova-Stil. Dein Solo-Material ist eine Mischung aus französischem Chanson, Pop und Elektro, wozu sich auf deinem neuen Album auch noch klassische Elemente gesellen. Ist es für dich schwierig, diese beiden sehr verschiedenen musikalischen Welten auseinanderzuhalten?

Mélanie Pain: Eigentlich nicht. In diesem Fall überschneidet es sich wirklich sehr, weil mein Album am 21. Oktober und das Nouvelle Vague Album am 4. November erschienen ist. Aber nein, ansonsten ist das nicht schwer für mich. Bei Nouvelle Vague machen wir ja Cover, dadurch hab ich eine gewisse Distanz zu dem Projekt.

Außerdem ist es ein Kollektiv, neue Leute kommen und gehen und wir kennen uns jetzt wirklich sehr gut. Dadurch fühlt sicht Nouvelle Vague für mich sehr leicht an, es ist fast wie Urlaub. Und dann hab ich mein Soloprojekt, bei dem ich alles mehr durchdenke, gestresster bin, mehr Angst habe und bei dem ich mehr ausprobiere.

Es braucht auch mehr Zeit! Es hat Monate gedauert, das neue Album zu schreiben und zu komponieren und den passenden Arrangeur zu finden. Es sind also zwei sehr unterschiedliche Sachen. Ich bin bei Nouvelle Vague zwar schon ich selbst aber ein bisschen Distanz bleibt trotzdem.

indieberlin: Würdest du sagen, dass du dich bei Nouvelle Vague mehr als Interpretin aber in deinem Soloprojekt wirklich als Sängerin fühlst?

MP: Ja, absolut! Bei Nouvelle Vague zeige ich nie, wer ich wirklich bin. Keiner vons uns tut das, [unsere Musik ist] eine Hommage an Lieder, die es schon gibt. Wenn ich The Cure oder Depeche Mode singe, bin ich nicht Mélanie Pain. Aber [in meinem Solo-Projekt] bin ich wirklich ich, das sind meine Geschichten.

indieberlin: Denkst du dir manchmal, ich will nicht, dass meine Solo-Sachen an Nouvelle Vague erinnern? Zwingst du dich, dafür anderswo Inspiration zu suchen?

MP: Darüber denke ich nicht so sehr nach… Ich hab Lust, auszuprobieren. Ich will nicht das nachmachen, was landere sowieso schon besser gemacht haben. Ich versuche, meine eigene Art zu schreiben und zu komponieren zu finden. [Als ich dieses Album gemacht habe], habe ich sechs Monate lang keine Musik gehört, weil ich wirklich in mir die Worte und Klänge finden wollte, nach denen ich gesucht habe. Es ist also echt persönlich.

„Das Album hat insofern ein Konzept, als dass es für mich ein Exorzismus ist. Ich versuche, all das rauszukramen, was ich normalerweise verstecke.“

Mélanie Pain official press photoindieberlin: Das neue Album unterscheidet sich sehr von dem, was du bisher gemacht hast. Die Stimmung ist eher düster, die Musik ist vollständig Klavier-basiert und in deinen Texten behandelst du ziemlich ernste Themen. Zuallererst: steht hinter dem Album ein Konzept?

MP: Ein bisschen schon. Auf meinen anderen Alben sind viele Lieder, die andere geschrieben und mir angeboten haben. Diesmal hab ich alles selbst geschrieben und komponiert und ich singe auch allein. Außerdem hatte ich mir vorgenommen, mir bei den Themen keine Schranken zu setzen. Wenn ich also Lust hab, über den Tod zu reden, rede ich darüber, weil ich [sowieso] die ganze Zeit daran denke.

indieberlin: Wirklich?

MP: Ja, sobald ich in ein Flugzeug steige… Ja, ich denke oft daran. Das Album hat also insofern ein Konzept, als dass es für mich ein Exorzismus ist. Ich versuche, all das rauszukramen, was ich normalerweise verstecke. Ich bin nicht deprimiert oder so aber dieser Teil gehört nun mal auch zu mir. Die dunkle Seite ist eigentlich immer da.

Und ich habe bemerkt: je mehr ich über schwierige und dunkle Themen schreibe, desto besser fühl ich mich. [lacht] Deshalb hab ich das Album auch Parachute („Fallschirm“) genannt, weil [diese Lieder] für mich jedes mal wie Fallschirme waren: „Ahh, endlich hab ich’s geschafft, auszusprechen, dass ich Angst habe, dass meine Eltern sterben!“ Das, was mich umtreibt und was ich emotional nicht bewältigen kann, spreche ich in Liedern aus und fühle mich dann besser.

indieberlin: Wir war die Arbeit mit [dem klassischen Pianisten und Arrangeur] Gael Rakotondrabe? Wie war euer Arbeitsprozess?

MP: Also, ich habe erstmal geschrieben und als ich ungefähr 20 Stücke zusammen hatte, haben Gael und ich uns bei mir getroffen und alles für Klavier und Gesang arrangiert, um die Basis zu schaffen. Und wir haben sehr viel geredet. Wenn du dir das Album genau anhörst, wirst du viele Texturen finden, die genau auf meinen Gesang abgestimmt sind und… das hat vorher noch nie jemand für mich gemacht. [lacht]

Musiker hören oft eher auf die Melodie, als auf den Text. Aber Gael hat wirklich auf die Texte geachtet und mir viele Fragen gestellt. Und danach hat er die Aufnahmen nur mit Klavier und Gesang genommen und bei sich weiter ausgearbeitet.

„Ich wollte, dass [mein neues Album] klingt, wie eine Mischung aus Agnes Obel und James Blake auf Französisch.“

indieberlin: Was inspiriert dich, ein Lied zu schreiben? Welche Songschreiber bewunderst du?

MP: Ich bin großer Nick Cave Fan. Was er macht, ist viel poetischer als das, was ich mache und viel raffinierter, was die Erzählweise angeht. Aber ich liebe es, wie die Worte bei ihm klingen. Auf französischer Seite mag ich Dominica sehr gern und… naja, ich höre wirklich viele verschiedene Sachen. Ich wollte, dass [mein neues Album] klingt, wie eine Mischung aus Anges Obel und James Blake auf Rranzösisch.

indieberlin: In einem anderen Interview hab ich dich sagen hören, dass du auch gern Poesie liest?

MP: Ja, ich mag zum Beispiel Pierre Reverdy sehr gerne. Und… was hab ich letztens noch gelesen? Gerade lese ich was von einer englischen Poetin, einer Slammerin. Wie heißt das Buch nochmal? Warte… [steht auf und kramt aus ihrer Tasche einen Gedichtband hervor] … Kate Tempest! Kennst du die?

indieberlin: Aber ja! Ich hab sie vor drei Wochen live gesehen, hier in der Nähe.

MP: Ich bin echt froh, sie entdeckt zu haben. Sie ist wirklich gut!

„Es gibt [auf meinen früheren Alben] ein paar sehr poppige, fröhliche Lieder, die ich einfach nicht mehr singen kann… Das bin nicht mehr ich.“

indieberlin: Du tourst gerade mit Nouvelle Vague. Kommt gleich darauf eine Parachute Solo-Tour?

MP: Ja, wir bereiten die Tour gerade vor. Am 1. Februar starten wir in Paris und ich glaube, wir kommen gleich danach nach Deutschland.

indieberlin: Bezüglich der Setlist für diese Tour: glaubst du, du wirst manche Lieder, die vielleicht zu den Lieblingsliedern deiner Fans zählen, nicht mit ins Programm nehmen können, weil sie nicht mit dem neuen Material zusammen passen?

MP: Also, bei einem Festivalauftritt in Paris im Oktober haben wir immerhin drei oder vier Stücke von meinen früheren Alben gespielt aber es gibt schon ein paar sehr poppige, fröhliche Lieder, die ich einfach nicht mehr singen kann. Zum Beispeil „Celle de mes 20 ans“ von meinem ersten Album: ein schönes Lied, das ich auch gerne höre – aber ich kann es nicht mehr singen. Das bin nicht mehr ich. Wir haben allerdings „La Cigarette“ in einer Elektro-Klavier-Version gespielt und das hat wirklich gut funktioniert!

„Marine le Pen ist gefährlich, echt mal!“

indieberlin: Letzte Frage. Du hast in Aix-en-Provence Politikwissenschaften studiert. Meine Frage also: wer wird 2017 französischer Präsident?

MP: Oh, ganz schlimmes Thema…

indieberlin: Ich hab gerade erst mitbekommen, dass Sarkozy die konservativen Vorwahlen verloren hat aber ich hab das alles nicht so verfolgt. Was denkst du von den Vorwahlen?

MP: Es ist absurd. Die Leute wollen nicht mehr das Establishment wählen, die, die schon seit Jahren ihren festen Sitz haben. Und sie haben Angst – Angst vor Terrorismus, vor der Krise, vor allem – und es gibt auf linker Seite niemanden, von dem sie sich vertreten fühlen. Ein Glück ist Sarkozy schon mal raus aber ehrlich, ich glaube, den Präsidentschaftswahlkampf werden vor allem die Konservativen und die Rechten bestimmen.

indieberlin: Glaubst du, Marine le Pen hat eine reelle Chance, Frankreichs erste Präsidentin zu werden?

MP: Ich glaube nicht… Ich hoffe nicht. Ehrlich, man weiß nicht, wie es ausgehen wird. Während der konservativen Vorwahlen dachten alle, es würde auf ein Duell Sarkozy-Juppé hinauslaufen – und dann ist Sarkozy total abgeschmiert! Und François Fillon, der ein totaler Outsider ist und dem man in keiner Umfrage eine Chance gegeben hat, hat 44 % der Stimmen geholt!

Die Leute wollen eben genau jemanden, der noch nicht an der Macht war. Sarkozy ist ja seit Jahren überall zu sehen! Und die Leute lesen sich keine Programme durch. Sie wollen Leute wie Trump, die total anti-politisch wirken… Es ist wirklich verrückt… Und Marine le Pen ist gefährlich, echt mal! Heute kann wirklich alles passieren. Ich will nicht mal daran denken, das macht einem wirklich Angst.

indieberlin: Hmm, wie schaffen wir es jetzt noch, ein positives Ende zu finden?

MP: Ähm… nächstes Jahr feiern wir 40 Jahre Punk! [lacht]

indieberlin: Das ist mal ein schönes Jubiläum!

MP: Ja, ich hoffe, dass so eine Zeit irgendwann wiederkommt. Diese Bewegung, diese durch und durch engagierte Musik, war wirklich ziemlich unglaublich. Irgendwie warte ich auf was. Es ist lange her, dass wir mal wieder was Neues hatten.

Interview: Bastian Geiken

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