Das Festival Rock in Vienna: Music & Style

by | indieBerlin

Man kann mehr als eine lieben. Das geht schon in Ordnung, oder? Berlinchen, du musst jetzt ganz stark sein, denn das hier wird auch ‘ne Liebeserklรคrung an Wien. Diese Stadt, in der die Graffitis im U-Bahn-Tunnel allen Ernstes einen “Guten Morgen” wรผnschen, in der an jeder Tram ein Regenbogenfรคhnchen vorneweg flattert, und die so voller alter Gebรคude, malerischer Ecken und Jugenstilfassaden ist, dass man ganz betrunken wird vor Schรถnfinden und Einzelheiten entdecken.

Und dann die Donauinsel. Rechts oben auf dem Stadtplan liegt sie, zwischen Donau und Neuer Donau, als langgezogener Strich im Wasser. Und hier fand am vergangenen Wochenende zum zweiten Mal das Festival Rock in Vienna statt. Zwei fette Bรผhnen und das รผbliche Sammelsurium an Fast Food und Bierstรคnden, in ร–sterreich natรผrlich durch die Platzhirsche von Red Bull ergรคnzt. Dazu eine kleine Newcomerbรผhne nรคher beim Eingang, und angenehm viele angenehm saubere Toiletten. Mehrere Klassen besser als Dixi, weil mit Vakuumspรผlung, daher ohne Gestank. Sowas bedeutet bei drei Tagen auf dem Gelรคnde echte Lebensqualitรคt, ebenso wie die zahlreichen Hรคndewasch-/Wasserspender-Becken, die bei der fast die ganze Zeit herrschenden Hitze hรถchst willkommen waren.

Mind Stage und Soul Stage

Auch das wunderschรถne Stage Design ist eine Erwรคhnung wert: Die sogenannte Soul Stage mit ihrem eigens fรผr den Rammstein-Auftritt erweiterten Breitbandformat prรคsentierte auf dem Bรผhnenvorhang die beiden erst kรผrzlich verstorbenen Helden David Bowie und Lemmy von Motรถrhead, eingerahmt von angedeuteten Maschinen und รผberzogen mit einem goldenen Gesprenkel, das den Bildern von Gustav Klimt entliehen war. Und auf dem Vorhang der nur minimal kleineren Mind Stage prangte mit Erwin Schrรถdinger, der Wiener Wissenschaftler, dessen berรผhmte Katze auf seiner Schulter vorwitzig das Pfรถtchen hob. Das Ganze schien wie fรผr mich alten Nerd persรถnlich gemacht.

Aber kommen wir endlich mal zur Musik und zu den Styles. (Eine kleine Bildergalerie findet ihr รผbrigens ganz unten am Ende dieses Artikels.) Am Freitag war auf dem Gelรคnde schon mittags offensichtlich, wer an diesem Abend der Headliner sein wรผrde: Gefรผhlt 90% aller Besucher trugen Rammstein-Shirts, ansonsten herrschte eindeutig schwarz vor, dazu Tattoos von grobschlรคchtig bis filigran, vom Bandlogo bis zur ganzen Welt auf einem Arm oder Bein.

Auf der Bรผhne dagegen mehr Vielfalt. Alex von Eisbrecher im schnieken Anzug, mit formvollendeter Hรถflichkeit zwischen den krachenden Stรผcken, die das Publikum gleich am Nachmittag mitrissen. Und dann ein StrauรŸ Blumen von einer Verehrerin, den er verblรผfft รผber die Absperrung hinweg entgegen nahm. Die folgenden Kรผsse an die รผberglรผckliche รœberreicherin der Blumen durften dann alle auf den Screens mitverfolgen, und es ging ein kollektives Seufzen durch die feiernde Menge.

Alte Haudegen und japanische Teenager

Danach Pain, deren Sรคnger in einer schmuddeligen Zwangsjacke steckte, und bei denen der Funke nicht ganz so stark รผbersprang. Sofort im Anschluss auf der anderen Bรผhne Anthrax: Alte Mรคnner machen Metal. Wie mรผssen sich diese Haudegen wohl fรผhlen, wenn ihre Aufrufe zum Mitklatschen, Rocken und Pogen ohne allzuviel sichtbare Begeisterung verhallen, und gleich danach die 3 japanischen Teenagermรคdels von Babymetal nur einmal “Wall of Death” piepsen mรผssen, und die ganze Meute rastet vรถllig aus. Babymetal ist ohnehin ein echtes Phรคnomen: Entweder nimmst du den Irrsinn hin und freust dich mit den anderen รผber das Getanze und Gequietsche der drei Manga-Teenies und ihrer geisterhaften Band im Hintergrund, oder du stehst kopfschรผttelnd und mit offenem Mund da, wenn sie mit ihren Hรคnden den “Fox God” darstellen, der verdรคchtig an den Schweigefuchs einer Grundschullehrerin erinnert, wenn die Klasse zu laut ist.

Bevor als nรคchstes mit Slayer wieder ein Urgestein die Bรผhne betrat, gab es als Zwischeneinlage eine Fallschirmspringer-Show, wie so vieles von dem Drink mit den Flรผรผรผรผgeln gesponsert. Die Kerle sind รผber dem Gelรคnde aus dem Flieger gesprungen, bunter Rauch unter ihren FรผรŸen, und dann sind sie mitten im Getรผmmel punktgenau gelandet. Nicht รผbel! Nach Slayer dann meine Lieblingsband Apocalyptica, die live einfach immer wieder ein Genuss ist. Ich muss es wissen, ich habe sie beim Rock in Vienna nun schon zum 18. oder 19. Mal gesehen.

Feuer, Feuer, Feuer

Rammstein hat dann schlieรŸlich alle Erwartungen รผbertroffen โ€“ was in meinem Fall ganz leicht war, denn ich bin kein groรŸer Fan. Ich finde ihre Songs auch nach dieser Mega-Show immer noch recht schlicht und brachial, aber das Feuerspektakel und Feuerwerk, was hier aufgeboten wurde, war schon immens beeindruckend und perfekt inszeniert. Feuer und Funken รผberall: Raketen explodierten am Himmel, FeuerstรถรŸe von allen Seiten, Feuerarme, Feuerhelme, Feuer, Feuer, Feuer. Dazu die punktgenau abgestimmte Lichtshow โ€“ diesem Brachialtheater konnte man sich kaum entziehen.

Null Hipster

Am Samstag wurden die Klamotten etwas farbiger, aber die meisten trugen nach wie vor simple, einfarbige T-Shirts, die Jungs auch erschreckend oft Polohemd. Je mehr man sich umsah, desto klarer wurde: Es gab keine Hipster. Null. Man fรผhlte sich fast in die 80er/90er Jahre versetzt, aber ganz ohne neon und andere Extreme. Erfrischend unstylish. Absolut niemand wirkte bemรผht. Und erspรคhte man doch einmal ein, zwei vereinzelte Typen oder Mรคdels, die sich scheinbar ein bisschen zu viel Mรผhe gegeben hatten, cool wirken zu wollen, dann konnte man sicher sein, dass sie VIP-Pรคsse um den Hals hรคngen hatten. Die Jungs der schwedischen Band Mando Diao waren wahrscheinlich die einzigen echten Hipster auf dem gesamten Festival.

Deren Auftritt hat auch definitiv SpaรŸ gemacht. Und dann flippte die Frau mit den vernรผnftigen Schuhen und dem bunten Desigual-Rรถckchen ein paar Schritte vor mir plรถtzlich aus, und hรถrte die nรคchsten zwei Stunden nicht mehr auf, ausgelassen zu tanzen. Das war die Stimmung: Der eine steht versonnen mit seinem Bier in der Hand da und trรคgt sein Bandshirt spazieren, die andere geht vรถllig aus sich raus und schert sich nicht darum, ob jemand kuckt. Viel weniger kritische, abschรคtzige, herablassende Blicke, als ich es oft von hier gewohnt bin. Ganz wenig zur Schau getragene Attitรผde, dafรผr sehr viel entspannte Gelassenheit. Mein Gott, selbst Vokuhila und Mรคnner mit Dauerwelle gab’s hier noch, aber auch das Einzelfรคlle. Der Altersdurchschnitt im Publikum war eher jenseits der 30, was natรผrlich auch den Bands geschuldet sein mag.

Be my Rock’n’Roll Queen

Allerdings gab’s am Samstag durchaus auch “jรผngere” Bands, etwa die groรŸartigen Schweden von Royal Republic. Die habe ich mir aus der ersten Reihe angeschaut, weil nachmittags um drei das Gedrรคnge vorne noch nicht allzu groรŸ war. Ich liebe die Energie und Spielfreude, die von den vier hรผbschen Jungs ausgeht. ร„hnlich frisch gerockt haben auch die sympathischen Subways, deren Hymne “Be my Rock’n’Roll Queen” dank der Verwendung in mehreren Filmen und Computerspielen wohl jeder schon mal gehรถrt haben dรผrfte. Auch Biffy Clyro aus Schottland kamen kraftvoll und charismatisch rรผber. Aber dann hat sich die Schauspielerin Juliette Lewis, die mit ihrer Band als Juliette and the Licks auftritt, in einen weiรŸen Catsuit mit USA-Stars-and-Stripes-Look gezwรคngt und versucht, auf der Bรผhne richtig auszurasten. Das hat auf mich dann im Vergleich eher arg bemรผht gewirkt. Viel Energie, die leider schon irgendwo im Graben verpufft ist.

Zรคh und quicklebendig

Als Headliner am Samstagabend dann der unverwรผstliche Iggy Pop. Eine Prรคsenz auf der Bรผhne, die ihm erst mal einer nachmachen muss! Und der Kontrast seiner “Show” mit der von Rammstein am Vorabend kรถnnte kaum grรถรŸer sein. Simple Lichtshow, kein Tamtam, Lederjacke ausgezogen und mit freiem Oberkรถrper diese riesige Bรผhne ganz allein beherrscht. Iggy ist die Show, und mehr braucht auch niemand. Diese Moves, diese Stimme, dieser sehnige alte Kรถrper, der schon alles erlebt und รผberlebt hat, der sich animalisch wie ein Raubtier und dann wieder expressiv, aggressiv รผber die Bรผhne bewegt, in den Graben hinunter, dem all der verfรผgbare Platz nicht zu reichen scheint, der ungebรคndigt und unglaublich energiegeladen das Publikum in seinem Bann hรคlt. Mรผhelos, mit einem Grinsen im Gesicht, mit der beilรคufigen Arroganz eines echten Kรถnigs.

Kontrastprogramm

Noch ein Tag Festival? Den Sonntag habe ich zunรคchst als Tourist begonnen. Ich war schlieรŸlich in Wien! Einkaufen bei Manner am Stephansdom (das ist die Firma mit den Original Neapolitaner Waffeln), dann eine kleine Fรผhrung durch die Katakomben mit ihren Urnen voller Habsburger Eingeweide und ihren Gruben voller sรคuberlich aufgeschichteter Knochen aus der Pestzeit. Danach Mittagessen und zielloses Herumspazieren. Habe ich schon erwรคhnt, wie sehr ich Jugendstil-Fassaden liebe?

Wieder auf der Donauinsel haben Kreator mich schon mit Geschrei und krachenden Gitarren begrรผรŸt. Leider folgten dann bald der erste (kurze) und der zweite (lange, heftige) Regenguss, und wรคhrend Nightwish ihren Gig noch unbeschadet beenden konnten, musste bei In Extremo das Festival kurzzeitig unterbrochen werden, bis die Sturmfront vorbeigezogen war. Definitiv die kluge, umsichtige Entscheidung, denn beim zeitgleich stattfindenden Rock am Ring sind ja bekanntlich eine ganze Reihe Leute vom Blitz verletzt worden.

Aftershow

Der Regen hat dann den letzten Headliner noch begleitet, und das Festival fand seinen Abschluss mit Iron Maiden, einem weiteren Urgestein der Szene. Und ich habe mich in die nรคchste U-Bahn gesetzt, um auch noch eine der zahlreichen Aftershow-Parties mitzunehmen. Im Chaya Fuera, einem netten kleinen Club mit Bรผhne, traten um Mitternacht noch einmal Royal Republic auf, und ich stand erneut in der ersten Reihe. Das ist eine ganze andere Nummer, wenn es keinen Graben gibt, man sich auf dem Monitor abstรผtzt, wenn um einen herum die Leute springen und mitgrรถlen, wenn die Musiker plรถtzlich zum Anfassen nah sind.

Der perfekte Abschluss fรผr das ziemlich perfekte Wochenende. Nach dem Konzert noch ein kurzes Hallo, Zeit fรผr Fotos, Autogramme und Fachsimpeln mit den Jungs, bevor ich auf den letzten Nachtbus in meine รผbrigens ebenfalls perfekt Airbnb-Unterkunft verschwunden bin. Wien nach diesem Abenteuerchen wieder hinter mir zu lassen war ganz schรถn schwer. Bist du bรถse, Berlin?

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