Die Mutmacherin: Kate Tempest im Astra-Kulturhaus

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Die verlorene Kunst des โ€žStorytellingโ€œ

Kate Tempest startet momentan durch โ€“ und das zurecht. Die 30-jรคhrige Britin, Schulabbrecherin aus einfachen Verhรคltnissen, bringt im groรŸen Stil das auf die Bรผhne zurรผck, was man im Rap-Jargon Storytelling nennt. Sie entwirft komplexe, detailreiche, miteinander verwobene Geschichten, die ein ehrfurcht- und manchmal angsteinflรถรŸend reales Bild der Gegenwart zeichnen und hรคlt das Ganze auf der Bรผhne nur durch Stimmeinsatz und Prรคsenz zusammen. Sie leuchtet, wenn sie dort oben steht. Man kรถnnte sie sich auch problemlos ohne Mikrofon auf einer Theaterbรผhne vorstellen. Sie will gehรถrt werden und spricht mit der Leidenschaft und Autoritรคt einer antiken Heldenfigur โ€“ und das in verschiedensten Reimschemata und auf Beats; ein bisschen Shakespeare, ein bisschen Rakim.

Vor anderthalb Jahren trat Tempest in der Kantine im Berghain auf, heute ist das Astra-Kulturhaus ausverkauft. Schon vor 20 Uhr drรคngen sich die Leute aus dem nasskalten Novemberwetter in die rotbeleuchtete Veranstaltungshalle. Die Altersklasse reicht von 18 bis 50, die einen erscheinen im schwarzen Kapuzenpulli, die anderen im Sakko. Der Part der Vorband wird von einem DJ รผbernommen, der uns mit eher minimal gehaltenen Beats mit gelegentlichen Soul- und Funksamples versorgt. Wรคhrend seines Sets fรผllt sich die Halle, die Zwischenrรคume schrumpfen zusehends, bis wir fast gedrรคngt stehen.

Die Chance, etwas zu sagen

Dann betritt Kate ohne groรŸe Geste mit ihrer Band die Bรผhne. Als der Scheinwerfer auf die Frau der Stunde fรคllt, wallt Applaus auf wie fรผr einen Weltstar. Bescheiden, beinah scheu steht sie da, mit Anerkennung und wahrer (Vor-)freude in den Augen sieht sie uns an. Sie bedankt sich im voraus fรผr den warmen Empfang, verrรคt uns dann, dass wir heute Abend ihr neues Album Let them eat chaos in voller Lรคnge hรถren werden, und bittet uns zum SchluรŸ noch, doch bitte unsere Handys in unseren Taschen zu behalten: โ€žIhr habt mehr davon, wenn ihr mit uns in dem Moment bleibt, statt ein blรถdes, verwackeltes Video zu machen, dass ihr euch nie anschauen werdet.โ€œ Hallelujah, es herrscht รœbereinkunft!

Und daraufhin geht Madame in medias res und bringt tatsรคchlich ihr gesamtes neues Albummaterial am Stรผck und ohne auch nur fรผr einen Schluck Wasser zu pausieren. Sie lรคuft auf und ab, bleibt immer wieder lรคnger am linken oder rechten Bรผhnenrand stehen, um auch die Leute dort zu erreichen, lรคsst ihre rechte Hand bei schnellen Passagen die Zeilen in der Luft nachzeichnen, sinkt in stillen Momenten in sich zusammen und starrt runter auf den Bรผhenboden, so dass ihr Gesicht ganz von ihren dunkelblonden Locken bedeckt ist. Unterstรผtzt wird sie von einer dreikรถpfigen Band, die mit E-Drums, Synthesizern und Keyboards ein zeitgenรถssisches Klanggewand fรผr Tempests GroรŸstadtgeschichten liefert.

Kampf der kleinen Leute

Wie schon auf dem Vorgรคnger Everybody down blicken wir in das Leben einer Anzahl junger Menschen (beim neuen Album sind es sieben) und erfahren etwas รผber ihren Charakter, ihre Wรผnsche, Trรคume und ร„ngste und worin sie sich รคhneln. Sie alle liegen um 4:18 Uhr wach in ihren Betten und finden keine Ruhe.ย  Berichtet wird u. A. von einem jungen Mann, der sich von seinem eigenen Leben distanziert fรผhlt und nur noch wie ein Geist durch seinen Alltag schleicht und von einer jungen Frau, die beim Auspacken ihrer Umzugskartons nicht voran kommt, weil jedes Besitztum fรผr sie auf einmal zu einem Fragezeichen wird.

Gezielt politisch wird es bei โ€žEurope is lostโ€œ, einem der Eckpfeiler des Albums. Fรผrchterlich nachvollziehbar und greifbar wird das Gefรผhl, die Quasi-Gewissheit, dass gewรคhlte und nichtgewรคhlte Machtmenschen das Schicksal von Europa und der Welt bereits besiegelt haben, es fรผr den GroรŸteil der Bevรถlkerung bergab geht, sich das Karussel aber trotzdem noch weiterdrehen wird, bis es auseinanderfรคllt. Man kรคmpft, weil man muss. Man strampelt und bleibt doch auf der Stelle.

Ausweg aus der Apathie

Trotz der scheinbaren Auswegslosigkeit bleibt die als Kate Esther Calver geborene Kรผnstlerin positiv: Jeder Mensch kommuniziert etwas. Seien wir wachsam, passen wir aufeinander auf, helfen wir uns, seien wir fรผreinander da. Das klingt vielleicht sprรถde, wenn ich es schreibe โ€“ aber nicht, wenn Kate Tempest es auf der Bรผhne vortrรคgt! Sie will mit ihren Geschichten zeigen, dass diese nur GroรŸaufnahmen von ganz normalen Leuten sind und erreichen, dass wir den Blick schรคrfen fรผr unsere Mitmenschen โ€“ was in einer Zeit, in der man mit Utopien nicht weiterkommt, ein lohnendes Unternehmen sein kรถnnte.

Unter groรŸem Applaus verlรคsst die Jetztzeit-Lyrikerin mit ihrer Band die Bรผhne, doch erscheint zum Glรผck noch einmal fรผr eine Zugabe. Sie beginnt auf einem von den Musikern improvisierten Beat einen Auszug aus ihrem Theaterstรผck Brand new ancients vorzutragen. Als sie dabei scheinbar den Faden verliert, lรคsst sie die Musiker das Tempo der immer noch gleichen Musik anheben und gibt spontan den Song โ€žThe Beigenessโ€œ vom letzten Album zum besten. Das vorher begonnene Stรผck beendet sie zu guter letzt acapella…

…und stellt dabei eine wichtige Frage: was werden kรผnftige Generationen von uns denken, von unserem Umgang mit der Welt und miteinander, wenn sie auf unser Heute zurรผckblicken? Hoffentlich verlรคsst uns der Gedanke nicht schon in dem Moment, in dem wir gleich nach dem Konzert wieder zu unseren Smartphones greifen.

Review: Bastian Geiken

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