Charisma des Introvertierten: The Jesus and Mary Chain im Astra-Kulturhaus

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Mitte der 80er sorgten The Jesus and Mary Chain fรผr Furore: die schottische Band um die Brรผder Reid kreirten eine neue Spielart des Rock. Ihre in mittlerem Tempo dahingroovenden, zumeist dรผster-melancholischen Songs sind Hymnen fรผr uncoole Kids, die sich mit Edding die Fingernรคgel schwรคrzen, fรผr Freaks und Aussenseiter. Alternative-Rock mit dem richtigen Schuss Pop-Appeal.

Nach Erfolgen in den 80ern und 90ern trennte sich die Gruppe aufgrund interner Streitigkeiten. 2007 fanden sich die Musiker wieder zusammen und verรถffentlichten diesen Mรคrz ihr von Fans lang erwartetes neues Album โ€žDamage and Joyโ€œ.

Erst im April waren The Jesus and Mary Chain zuletzt in Berlin. Aufgrund der groรŸen Nachfrage folgt nun ein weiteres, annรคhrend ausverkauftes Konzert in der Astra Kulturhalle. Viele Fans erscheinen in sowieso nie unangebrachtem schwarzem Kapuzenpulli, andere lassen mit Lederjacke und aufwรคndiger Haarspray-Frisur die 80er noch einmal aufleben.

Cold Cave playing a show in Berlin in October 2017Cooles 80er Revival

Sollte es heute wirklich darum gehen, dann ist die US-Band Cold Cave, die pรผnktlich um 20 Uhr das Vorprogramm startet, perfekt auf den Abend zugeschnitten. Denn dass New Order und The Cure fรผr den Sound dieses Quartetts Pate gestanden haben, ist unรผberhรถrbar.
Das unnachgiebige Schlagzeugspiel, verstรคrkt durch einen Drum-Computer, peitscht die Songs nach vorne und hindert die melancholischen Texte daran, ins allzu Schwermรผtige abzudriften. Keyboard und Gitarre vervollstรคndigen die Klangpalette.

Cold Cave playing a show in Berlin in October 2017Der mit Sonnenbrille bewรคhrte Sรคnger Wesley Eisold hat eine nicht zu verneinende Bรผhnenprรคsenz.
Mit einer Coolness, in die er noch nicht ganz aber doch hinreichend hineingewachsen ist, schlendert er รผber die Bรผhne, singt mit den Hรคnden in den Jackentaschen, steht, wenn er nicht singt, auch mal mit dem Rรผcken zum Publikum.

Energiegeladen und professionel ist das Set von Cold Cave. Allerdings wirkt es ein bisschen atemlos und bietet auch keine wirklichen Hรถhepunkte.

Guitarist William Reid from The Jesus and Mary Chain, Berlin, 2017Diskographie-Revue ohne Schnickschnack

Um 21:15 Uhr erscheinen dann The Jesus and Mary Chain unter groรŸem Beifall auf der Bรผhne, zuvorderst Gitarrist William Reid, in schwarzem Jackett, dickgerandeter Brille und der grauen lockig-wirren Haarpracht eines Tim Burton Charakters.
Er winkt und platziert sich sogleich links hinter seinen Monitorboxen, wo er den Rest des Abends verweilen wird. An gleicher Stelle rechts vom Schlagzeug stehen Rhythmus-Gitarrist und Bassist in ebengleicher, unauffรคlliger Position. Sรคnger Jim Reid steht allein im Vordergrund.

Die Band startet mit einem Song des neuen Albums, dem gleich eines der รคlteren Stรผcke, โ€žHappy when it rainsโ€œ nachgeschoben wird. Der Sound in der Astra Kulturhalle ist messerscharf und ordentlich laut. Die verzerrten Gitarren drรถhnen und scheppern. Das Element, auf das die Briten heute leider weitgehend verzichten, sind die lรคngeren Noise-Ausbrรผche, die sie auf ihren frรผhen Alben so gekonnt eingesetzt haben, um die Struktur ihrer doch zumeist in Pop-Manier geschriebenen Songs aufzubrechen. Dieses Stilmittel hรคtte โ€“ neben etwas live-Improvisation โ€“ das Konzert noch interessanter gemacht.

Singer Jim Reid from The Jesus and Mary Chain, Berlin, 2017Charisma des Introvertierten

Sรคnger Jim Reid ist ein interessanter Frontmann. Unauffรคllig mit kurzen Haaren, in Tshirt und Jeansjacke, steht er oft vornรผbergebeugt, das Mikrofon und mehrere Schlaufen Kabel in einer oder beiden Hรคnden. Versunken, fast vertrรคumt lรคuft er gemรคchlich die Bรผhne auf und ab, wendet sich bisweilen zum Schlagzeug ab.
Fast schรผchtern wirkt dieser erfahrene Rock-Musiker und strahlt dabei doch ein besonderes Charisma aus. Beachtlich ist auรŸerdem, dass die Stimme des 55-jรคhrigen nach 30 Jahren Bandgeschichte vรถllig unverรคndert klingt!

Lauter Abgang

Die alten und neuen Songs werden vom Publikum warm aufgenommen, wobei Klassiker wie das ansteckende โ€žApril skiesโ€œ den grรถรŸten Beifall ernten. Nach etwa 75 ohne Ansprachen durchgespielten Minuten verabschiedet sich die Band erstmals von der Bรผhne, kehrt jedoch noch fรผr zwei Zugaben zurรผck.

Das letzte Lied des Abends ist das postpunkige โ€žI love/hate rock’n’rollโ€œ (nicht zu verwechseln mit dem oft gecoverten Stรผck der Arrows), bei dem dann auch nochmal etwas Bewegung in den vorderen Reihen des nicht sehr tanzwรผtigen Publikums entsteht. Nach etwas mehr als 90 Minuten ist dann wirklich Schluss. Schade, dass The Jesus and Mary Chain bei ihrer Fรผlle an (guten!) Songs nicht noch ein bisschen lรคnger gespielt haben.

Text und Bild: Bastian Geiken

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